Die Elefantenkurve und Ängste als Nährboden des Totalitarismus

Branko Milanovic hat in „Global Inequality“ aufgezeigt, dass die Einkommen der Reichen, welche 1% der Weltbevölkerung ausmachen, sich innerhalb von 20 Jahren verdoppelt haben, währenddessen das verfügbare Einkommen des sogenannten Mittelstandes in der westlichen Welt stagnierte.  Das zeigt die mit der sogenannten Elefantenkurve abgebildete Entwicklung der Einkommen. Die NZZ behauptet das Gegenteil und insinuiert – wohl wegen der Einkommensfortschritte des untersten Bevölkerungsfünftels – auch Milanovic akzeptiere, dass die Ungleichheit nicht mehr zunehme. Das dies keinesfalls stimmt, beweist die Lektüre von „Kapitalismus Global“ (S.35): „…dass hohe Arbeitseinkommen an der Spitze der Einkommensverteilung, wenn sie mit hohen Kapitaleinkünften derselben Personen einhergehen, die Ungleichheit vergrössern…. nie zuvor in diesem Ausmass beobachtet…“

In der Schweiz hat sich die Anzahl Superreiche in den letzten Jahren zwanzig Jahren versechsfacht. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist mit 10% zehnmal höher als im Weltdurchschnitt – mit entsprechender Visibilität in Einkaufsmeilen und Villenquartieren von St. Moritz bis Genf. Die Stagnation im Mittelstand ist hingegen europaweit überdurchschnittlich und erfasst drei Viertel der Bevölkerung.

Im Vergleich zur Entwicklung der mittleren Einkommen haben sich die Krankenkassenprämien dreimal so stark verteuert, währenddessen die AHV-Renten der Einkommensentwicklung um 50% hintennach hinken. Kein Wunder profitiert in keinem Land Europas eine Rechtspartei derart vom entsprechenden Frustrationspotenzial wie die SVP. Milanovic zeigt dies umfassend in seiner neuesten Publikation „Kapitalismus Global“ auf.

Trotzdem ist es nicht v.a. die Stagnation des Lebensstandards, sondern die Angst vor dem Verlust der gesamthaften Lebensposition – auch wegen der Entwurzelung aus dem ruralen Umfeld der grosselterlichen Generationen, welches Wutbürger in die Arme totalitärer politischer Bewegungen treibt. 42% der Einwohner in den Agglomerationen und in kleineren Städten fühlen sich gemäss einer Studie des Beobachters aus 2013 ländlichen Denkhaltungen und Verhaltensweisen verbunden. Die SVP mit ihrem heimattümlerischen Umfeld hat ihre grössten Wähleranteile denn auch in Gebieten wie dem Aargau oder in Schaffhausen (Wähleranteil 45%).

Stimmungen schaffen politische Tatsachen und nicht Tatsachen Stimmungen, meint Daniel Binswanger: 36% halten Ausländer für die grösste Bedrohung – am ausgeprägtesten dort, wo der Ausländeranteil am geringsten ist. Die Machtelite tut gut daran, nicht nur die ökonomischen Fakten, sondern auch diese Stimmungen ernst zu nehmen. Die von Milliardären gesteuerten Rechtsparteien und Bewegungen meinen allerdings, es genüge, die Frustrationen des Mittelstandes durch Fremdenfeindlichkeit und Schuldzuweisungen an internationale Organisationen zu bewirtschaften und die einkommenspolitischen Fakten „wissenschaftlich“ zu vernebeln. Gegen Globalisierung und das Outsourcing von Arbeitsplätzen anzutreten, geht hingegen nicht gut, denn die Grossbetriebe der Superreichen sind hier ja die entscheidenden Akteure.

Wie die 30-er Jahre zeigen „(reicht es) für den Sieg des Bösen, wenn die Guten nichts tun“, meint Elias Burke. Denn wenn sich Einkommens- und Vermögensscheren öffnen und politische Abschottungsstrategien zu wirtschaftlichen Abwärtsspiralen führen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass unser wirtschaftsliberales, demokratisches Gesellschaftsystem zerbricht.

Einkommensungleichheit Blog_V16
Ungleichheit Leserbrief NZZ 2015_06_12
Milanovic_Ungleichheit_Buchbesprechung_NZZ_20160520_27
Ein halbes Jahr für ein paar Schuhe_Leserbrief_NZZ 22.12.2016

Bildquellen:

  • Milliardäre: TimOve via Foter.com CC BY

4 Comments on “Die Elefantenkurve und Ängste als Nährboden des Totalitarismus

  1. Glaubwürdigkeit der Wirtschaftselite

    “You can fool some of the people some of the time but you cannot fool all the people all the time” (Abraham Lincoln).

    Bereits in Studien der ehem. Konso AG im Auftrag der SPRG, Schweizerische Public Relation-Gesellschaft und des „Beobachters“ aus den Jahren 2004, 2007 und 2008 wurde aufgezeigt, wie das Vertrauen der Bevölkerung in die Wirtschaft immer wie brüchiger wird – besonders wenn man den Bogen überspannt. Anlass dazu boten Themen wie Bankgeheimnis und Erbschaftssteuern.

    Die Abstimmungslandschaft zur Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform im Kanton Zürich illustriert nun, dass bei Steuergeschenken an die Superreichen das Herrschaftsgebiet von Christoph Blocher von Herrliberg aus im Kanton Zürich nur noch gerade etwas mehr als ein halbes Dutzend Wohnsitzgemeinden von Wirtschaftsmilliardären v.a. auf der Goldküstenseite des Zürichsees erfasst.

    Dass die Strategie, wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit mit Fremdenhass kaschieren zu wollen, trotzdem noch durchaus Potenzial hat, wird durch die Zustimmung zur erleichterten Einbürgerung nicht widerlegt: Vielmehr zeigt sich, dass auch ein minimalster Konsens in der Ausländerpolitik von noch 40% der Abstimmenden abgelehnt wird.

    Die Abstimmungslandschaft über die Unternehmenssteuerreform im Kanton Zürich

  2. Eduard Kaiser schreibt in der NZZ v. 24.8.2018 (S. 10, Das Zeitalter der starken Männer“), dass der Faschismus sich durch die Mobilisierung der Habenichtse durch die Wohlhabenden auszeichne. Wie in „Der wütende Elefant…“ ausgeführt, „ist die Plutokratie bestrebt, Ihre Machtposition durch Feindbilder und zumindest Verniedlichung ökonomischer und ökologischer Sachverhalte wie Einkommens- und Vermögensscheren, Klimawandel und Ressourcenraubbau zu vernebeln.“ Historische Erfahrung zeigt, dass totalitaristische Regierungen gerade wegen des von Ihnen verursachten wirtschaftlichen Niedergangs ihre Machtpositionen zu stärken vermögen: Einkommens- und Vermögensscheren, Zukunftsängste und Identitätskrisen erleichtern die demagogische Durchschlagskraft.

    Die Wahlsiege der Republikaner und Trumps Wiederwahl sind nicht durch die Hochkonjunktur gesichert (wie diese behaupten und für sich reklamieren), sondern würden in einem Crash noch bedeutender. Auch die naive Hoffnung, ein Finanzkrise in Italien würde den Populisten ein Ende bereiten, ist verfehlt. Analog dazu, würde eine Wirtschaftskrise in Frankreich Marie Le Pen an die Macht bringen.

  3. NZZ 15.11.2019, Unruhe auf der Wohlstandsinsel Schweiz: Diesen Leserbrief wollte die NZZ nicht drucken:
    http://information-intelligence.ch/wp-content/uploads/2019/11/NZZ_2019_11_15_Wohlstandsinsel.pdf
    „Die Ungleichheitsentwicklung in der Schweiz entzieht sich keiner Relativierung
    In der NZZ vom 20.5.2016 negierte Hansueli Schöchli, dass sich der Mittelstand in der Schweiz „ausdünne“. In der NZZ vom 11.4.2019 wurde hingegen plötzlich zugegeben, dass der Anteil des geldwert definierten Mittelstandes an der Gesamtbevölkerung tatsächlich zurückgehe. Die Schweiz hebe sich jedoch noch positiv vom OECD-Durchschnitt ab, weil … „der Einkommensanteil (des Mittelstandes) nicht (noch) stärker zurückgegangen (sei)“. Nun soll die zunehmende Ungleichheitsentwicklung der Einkommen – ganz zu schweigen von den Vermögen – durch den Hinweis relativiert werden, dass die „Kaufkraft des Durchschnittslohnes hierzulande … eine der höchsten“ sei.
    Dabei ziehen die Piketty-Leugner einmal mehr die genau dazu gerade nicht geeigneten Ginikoeffizienten bei. Das dabei angewandte Untersuchungsdesign enthält die für Ungleichheiten besonders relevanten obersten Percentile definitionsgemäss nicht. Dazu kommt, dass die obersten Segmente, wie auch das unterste Dezentil – namentlich Ausgesteuerte und in prekären Verhältnissen mit Sozialunterstützung lebenden Personen – aufgrund der hohen Nicht-Erreichbarkeit aber auch aufgrund der hohen Teilnahmeverweigerungen in den Berechnungen unterrepräsentiert sind. Dasselbe gilt für vermutlich über Hundertausend nicht Register-gemeldete Sans Papiers.
    Tatsächlich ist die Ungleichheitsentwicklung statistisch unwiderlegbar und für die Mehrheit aller Einwohner sichtbar, erlebt und gefühlt und bleibt damit „Kernkonflikt in der Politik“ in der Schweiz wie auch anderswo.
    Auch Durchschnittswerte oder Mediane (wie im Report „Entwicklung und Ungleichheit von Einkommen und Konsumausgaben“ des Bundesamtes für Statistik faktenverschleiernd aufgeführt) sind unbrauchbar zur Illustration von Ungleichheitsentwicklungen. Ebenso wenig geeignet sind grobe Quintilanalysen, deren Manipulation in der NZZ vom 6.12.2017 von Daniel Oesch vorgeführt wurde.
    Schon die Dezilanalyse zeigt allerdings, dass die Einkommen der obersten 10% in 10 Jahren um rund 50% gestiegen sind. Wut entfacht die Ungleichheitsentwicklung im Vergleich zum obersten Perzentil: Vor 10 Jahren gab es keine 1000 Lohnmillionäre. Nun sind es mehr als dreimal so viele.
    Wenn in der NZZ ausgeführt wird, dass „für den Menschen (…) wie für den Affen der Rang in der Hackordnung“ die Ursache für die „routinemässige“ Forderung der Linken nach mehr Umverteilung sei, dann ist diese Aussage so falsch wie geschmacklos. Dies – von der NZZ unbedacht salopp formuliert – weil „die Post im obersten Prozent und noch mehr im obersten Promille der Lohnempfänger (abgeht)“. Für jedermann sichtbar an der Porschedichte an exklusiven Standorten und – in globaler Perspektive – an den Privatjets während des WEF.
    Die Mehrheit der Schweizer Haushalte mit den Primaten zu vergleichen, nur weil das verfügbare Einkommen stetig abnimmt, ist so verfehlt wie unwürdig. Denn nach Abzug von Krankenkassenprämien, progressiver Steuerbelastung, Monopolpreisen von SBB, Post, SRG und Stromverteilern, überhöhten Preisen und Gebühren von wettbewerbsgeschützten Detailhandelsketten, Banken, Versicherungen und Gesundheitsdienstleistern „(kommen) die Realeinkommen (…) kaum vom Fleck.“ Diese „gewerkschaftliche Darstellung“ kann auch von der NZZ nicht dadurch beschönigt werden, dass „die Reallöhne (…) auf unsere Wohlstandsinsel nicht (einbrechen)“. Da würde sich schon eher ein Blick auf die Vermögensentwicklung breitester Bevölkerungskreise lohnen, wo die Zinserträge schon längst eingebrochen sind.
    In die gleiche Strategie der Ungleichheitsleugnung passt der NZZ-Artikel vom 20. Nov. 2019 „In der Schweiz geht es erstaunlich fair zu“. Der neokonservative Shootingstar Florian Scheuer meint dabei die Forschungen von Piketty, Zucman und Saez mit der Argumentation zu verunglimpfen, sie würden “die Forschung benutzen, um ihre politische Agenda für deutlich mehr Umverteilung zu unterstützen“.
    http://information-intelligence.ch/wp-content/uploads/2019/11/NZZ_2019_11_20_In-der-Schweiz-fair-.pdf
    Der epochalen empirischen Arbeit der Ungleichheitsforscher setzt Scheurer völlig konstruierte Argumente zur Steuerentlastung der Superreichen entgegen. So behauptet er, Manager würden bei Steuererhöhungen “ihr Engagement verringern“ und dadurch „die Wertschöpfung überproportional verringern“. Nebst der Anlehnung an unbelegte Narrative zur angeblichen Steuervermeidung und zu Bildungs- und Risikoentscheidungen Jugendlicher wegen der durch Steuerlast angeblich gestutzten Berufsperspektiven, ist sich die NZZ zudem nicht zu schade, vergleichende Grafiken mit unterschiedlich prozentuierten Achsabschnitten in ihrer „Beweisführung“ einzubauen.
    Dass horrende Ungleichheiten Anlass zu Massenprotesten weltweit sind, rapportiert die NZZ aufwändig, so beispielsweise in der NZZ am 23.11.2019. Extreme Parteien nutzen diese Massenwut aus – weltweit wie auch in der Schweiz.

  4. Diesen Leserbrief wollte der “Economist” nicht drucken… Umso erstaunlicher der zunehmende Pessimismus bezüglich der wahrscheinlichen Wahl von Trump. Nach den Fehlprognosen bezüglich der Wahl von Trump 2016 und der Annahme von Brexit, will man sich in der Redaktion des Economists nicht mehr ein drittes Mal die Finger verbrennen…

    Economist Dec. 2nd 2023
    The rich world’s blue collar bonanza

    No increase means no decrease

    As you note, that American income inequality has barely increased since the 1960s you obviously also admit that the enormous gap between the income of the top 10 %, accounting for ca 50% of total income and of the bottom 50% accounting for ca 10% of total income has not decreased in the last 50 years or so. What a lasting disaster! Furthermore asset inequality and thus income based on assets has grown.
    Newer data accounts for blue collar income increases due to government transfers; higher labor market demands and productivity gains reflected in hourly wages. Still, for several reasons, not at least inequality, a large portion of the American people are even more frustrated than 2016 when they elected Trump. Every fifth family dropped out of what could be defined as middle class – 2/3 and not more than double the average income. This entails the fear of others, witnessing this fall among their neighbors; to fall in this trap themselves. Just because the asset based income growth of the rich has come down somewhat and blue collar income is increasing the elephant curve holds nevertheless, even though the trunk of the elephant hangs now down a little lower.
    As this sense of inequality and fear of income loss is cutting much deeper than pay check perception it is all the more as relevant as ever. Siding for Trump again does indeed depend on what Americans believe – they don’t read the published price indices neither the “Economist”- regarding the seeming price increase of eggs as scandalized by fox news. This sense of being hit by price increases contrasts against the luxury life of the excessively rich as visualized in the social media and the yellow press.
    Economists may deplore the gap between recent statistical data and entrenched, widespread frustrations of some 100 million Americans whereas social scientists will document the growing anger of large groups of the population due to their inability to change anything in their fate, their fear of disrespectful government interference and their deepening hatred of rich, urban, liberals who appear to be free of those worries and bragging about it. Drawing up a golden age for workers will not keep Trump from being reelected by these very same golden agers.

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