Absichtsfragen – weshalb Trump hätte gewinnen können und weshalb zehnmal weniger grüne Autos gekauft werden, als Umfragen abbilden

Seit Jahren wird das Versagen von Absichtsbefragungen mit rational ausgerichteten Fragestellungen thematisiert (s. dazu unten den Leserbrief zur SZ vom 2.3.2008 und dazu relevante Dokumentation. Seit 3 Jahren wird der vorliegende Text entsprechend dem tagespolitischen Verlauf angepasst).

Individuelle und kollektive Identität

Wenn in der NZZ vom 12.10.2019 sowohl das bekannte „Gefangenendilemma“ aber auch eine sogenannte „individuelle und kollektive Identität“ als Grund für das Versagen von Kaufabsichtsfragen zu Elektroautos bemüht werden, dann ist daran allenfalls erstaunlich, dass sich die Markt- und Meinungsforschung  wissenschaftlich seit Jahrzehnen belegte Phänomene des Antworens, resp. entsprechender Fragestellungen und Interpretation nicht längst zu eigen gemacht hat. Kein Wunder wird die Prognosetauglichkeit derartiger Erhebungen schon seit Jahren weder in den Chefetagen der Unternehmen, noch im sozialwissenschaftlichen Umfeld und auch nicht in der Bevölkerung ernst genommen.

Ideologisch/ emotional vs. rationaler Nutzen/ Schaden

Dieselben Probleme wie die Marktforscher haben die Wahl- und Abstimmungsprognostiker: Ideologisch/ emotional ausgerichtete kollektive Identitäts-  und rationale, materiell motiviert individuelle Nutzen- (oder Schadens-) aspekte können sich in Umfragen wie auch in der Entscheidungssituation selbst unterschiedlich stark und in unterschiedliche Richtungen auswirken. Wenn es bei Wahlen um „Identität“ geht, wirkt Mobilisierung stärker, als bei „Nutzen“-Entscheidungen. Umfragen sind kaum in der Lage, diese Komplexitäten abzubilden. Weil Abstimmungen immer wie emotionaler aufgeladen werden, sind entsprechende Umfrageprognosen ausserhalb des statistischen Streubereichs mehrheitlich unztreffend. Dies allerdings auch, weil die Umfragen nicht mehr auf echten Zufallsstichproben basieren und die entsprechenden Statistkgesetze eigentlich nicht mehr anwendbar sind.

In der Schweiz basiert der Erfolg der SVP bei Wahlen und Abstimmungen auf  der kollektiven identitären Mobilisierungsfähigkeit.  Identitäten in Szene zu setzten, gelingt dabei immer wie besser, je weniger selbstverständlich – quasi nur noch verklärter Erinnerungswert – sie sind. So hat die „ländliche“ SVP ihr Wählerpotenzial in den Agglomerationen erobert. Das hätte auch 2020 zugunsten eines Wahlsieges von Trump sprechen können und funktionierte 2016 gerade wegen der fehlenden derartigen Identitäten zuungunsten von Hillary Clinton.  „Hillibillies“, Cowboys, Pioniere, Personen mit hergebrachten Vorstellungen von Genderrollen und Gottesfürchtige bilden zwar keine Wählermassen, aber diejenigen, welche sich mit derartigen Identitäten identifizieren, schon.

USA Wahlabsichtsumfragen: Das Bild hätte 2020 genauso täuschen können wie 2016

Die Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen 2016 prognostizierten einen knappen Ausgang zugunsten von Hillary Clinton. Trotz des Sieges von Trump waren die Umfragen allerdings innerhalb der statistischen Streubereiche „korrekt“.  Auch Trump hätte 2020 entgegen den Umfragewerten gewinnen können. Dies weil die Elektorenwahl kleinere und konservative Staaten (und innerhalb der Staaten nicht-urbane bevölkerungsarme Bezirke, sog. „Counties“) begünstigt. 2016 reichte diese Konstellation aus, obwohl Trump nur 47,5% der Stimmen gewann. 2020 reichten 47,2% der Stimmen nicht aus. Dies obschon Trump mehr als 10 Millionen Stimmen als 2016 holte. Bei voraussichtlich knappen Ergebnissen und bei strukturellen Konstellationen – wie in der Schweiz bspw. das sog. Ständemehr – sind die Umfragen unzuverlässig.

Die Wahlchancen Trumps stiegen 2020 entgegen den Umfragewerten, weil es ihm gelang, ein im Vergleich zu 2016 noch grösseres Wählerpotenial zu mobilisieren. Dies deshalb, weil infolge der zunehmenden ökonomischen Ungleichheitsentwicklung und wegen der Reaktion auf die BLM-Bewegung dieses Wählerpotential auch insgesamt grösser aber auch monolithischer geworden ist, in den Umfragen jedoch unterrepräsentiert erscheint. Eine Mehrheit zugunsten von Biden kam letztlich auf dieselbe Weise zustande, wie die Niederlage von Hillary Clinton: 2016 stimmten Wähler zugunsten von Trump, weil sie sich nicht für Hillary Clinton erwärmen konnten. 2020 stimmten Wähler zugunsten von Joe Biden, weil sie sich von Trump wegen seines Versagens in der Coronakrise und wegen seines Politikstils abwandten. Umfragen müssten also nicht nur die Zustimmung zu Kandidaten, sondern auch deren Ablehnung – inkl. die dazu relevanten Motive – abbilden.

Das Potenzial für Wahlbehinderungen (Registrationen, Briefwahl, Verknappung von zugänglichen Wahllokalen wie in Texas resp. das Betrugspotenzial bspw. im Staat Florida, der allein 5% der Elektoren stellt) begünstigten Trump. Dazu kommt, dass die Republikaner die Staatsparlamente von wichtigen Swingstates, namentlich Pennsylvania, Michigan und Wisconsin dank sog. Gerrymandering kontrollieren, obschon die Demokraten dort regelmässig die Stimmenmehrheit erzielen. Die republikanisch kontrollierten Parlamente, hätten Elektorenmehrheiten zugunsten von Trump umbiegen können. Bei Umfrageergebnissen ist es nahezu unmöglich, derartige Phänomene zu gewichten.

Trump hätte dank der Homogenität seiner Wählerschaft und der spezifischen Konstellation bezüglich der Elektorenstimmen sogar mit weniger als den 2016 und 2020 erzielten Stimmen gewählt werden können. Die Demokraten standen hingegen vor der Herausforderung, eine „Koalition von sehr unterschiedlichen Menschen“ (Ezra Klein, Why we’re polarized, New York 2020, vgl. auch Michael Lind, The New Class War) begeistern zu müssen. Diese Heterogenität ist in landesweiten Umfragen nicht differenziert genug abbildbar. 2024 werden die Ungleichheiten nicht geringer sein, die rechtspopulistisch geprägte Population wird wachsen und deren Homogenität zunehmen. Die Chancen auf die Wiederwahl eines darauf ausgerichteten Präsidenten bleiben intakt.

Psychologische vs. soziale Bias

In der Schweiz wirken materielle Verlustängste beispielsweise dem kollektiven Ökologiemoment entgegen. Man deklariert Sympathie gegenüber einem grünen Auto, resp. gegenüber einer grünen Parte, kauft (wählt) aber aufgrund von Verlustängsten resp. materiellen Nutzenüberlegungen trotzdem nicht so. In der Ausländerpolitik können die emotional ausgerichteten Identitätsmomente nur teilweise von rationalen Argumenten übersteuert werden. Sowhl bei der Initiative zum Burkaverbot wie bei der Minarettabstimmung bildeten die Umfragen das Gegenteil des Abstimmungsergebnisses ab – gleich wie bei der CO2-Abstimmung und jetzt nicht unwahrscheinlich beim Klimareferendum.

In diesem Kontext klärt sich auch, dass Marktforschung zu Themen mit starker Ausrichtung auf die individuelle Identität weltweit mit gleichartigen Ansätzen durchgeführt werden kann, da die neuronale Konstruktion aller Individuen weltweit seit der letzten menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufe vor geschätzten 50‘000 Jahren identisch ist. Umfragen mit starker Ausrichtung auf die kollektive Identität müssen jedoch auf die soziokulturellen Gegebenheiten ausgerichtet werden, weil „Menschen, die in Gemeinschaftskulturen aufgewachsen seien, etwa in asiatischen oder arabischen Ländern, ein höheres Mass der Überlappung zwischen neuronalen Ich-und Wir-Netzwerken zeigen als Westeuropäer und Nordamerikaner“.

Kaufabsicht Hybridautos Blogtext

 

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Bildquellen:

  • Janus: Werner Trinkl

2 Comments on “Absichtsfragen – weshalb Trump hätte gewinnen können und weshalb zehnmal weniger grüne Autos gekauft werden, als Umfragen abbilden

  1. Jetzt ist es wirklich an der Zeit, Greta nicht mehr zu unterschätzen:

    Hintennach ist der Prognostiker klüger: Die Umfrageforscher haben auch in den NR-Wahlen deutlich daneben gelangt. Die Verluste der SVP, insbesondere jedoch die Gewinne der grünen Parteien wurden unterschätzt. Dass die SP Verluste einfährt, hatte praktisch niemand auf dem Radar. Auch wenn die Abweichungen bei den Instituten nicht derart weit ausserhalb der statistischen Streubereiche liegen, wiesen sie doch alle in dieselbe falsche Richtung. Der elementare Fehler liegt dabei auch darin, dass es sich bei den online-Umfragen wegen der Panelrekrutierungen längst nicht mehr um Zufallsstichproben handelt und die statistischen Massstäbe der Wahrscheinlichkeitsrechnung gar nicht mehr anwendbar sind. Dazu kommt, dass die Umfragen die jetzt entscheidenden urbanen, mobilen Millenials unterdurchschnittlich erreichen und die besser erreichbaren Senioren im ländlichen Raum diesmal etwas stimmfaul waren.

    Dass es den Grünen gelingt, eine derartige „kollektive Identität“ ohne die von der SVP forcierten Verlustängste abzuholen, hätte ich nicht vermutet. Überschätzt habe ich auch die Mobilisierungsfähigkeit der SVP. Definitiv an der Zeit ist es allerdings, Greta Thunberg nicht mehr zu unterschätzen.

  2. Präsidentschaftswahlen USA 2020:

    Insgesamt waren die umfragebasierten Prognosen eher besser, als 2016. Die Mehrheitsverhältnisse zugunsten von Biden in Swingstaaten, realisierten sich tatsächlich, währenddessen der geringe Vorsprung von Hillary Clinton 2016 – immer noch innerhalb der statistischen Streubereiche – ins Umgekehrte gekippt war. Allerdings war der Wahlausgang knapper als prognostiziert, da die Prognosen die Mobilitätskraft von Trump, welcher – wie vorausgesagt – Millionen von Stimmen mehr erhielt als 2016, resp. die Unterrepräsentanz von dessen Zielgruppen in den Umfragen nicht genügend berücksichtigten.

    Zudem basierten die Stichproben auf veralteten Strukturvorgaben, welche der rasanten demographischen Veränderung in Staaten wie Arizona und Georgia nicht gerecht wurden. Diese Defizite habe ich unterschätzt und deshalb die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Trump überschätzt.

    Schliesslich wurde das Betrugspotenzial in den republikanisch regierten Staaten letztlich – sei es aus Schlamperei oder doch zu geringer krimineller Energie – nicht ausgeschöpft.

    Ideologisch/ emotional ausgerichtete kollektive Identitätsaspekte waren die entscheidenden Wahlmotive, was befragungstechnisch schwierig zu erfassen ist. Individuelle Nutzen (resp. Schadensaspekte wie der Wirtschaftsabschwung und die Coronabedrohung) waren von geringerer Bedeutung.
    Die Social-Medianalysen, welche einen Sieg von Trump prognostizierten, waren korrekt hinsichtlich der enormen Mobilitätswirkung von Trump mit gegen 80 Mio Twitter-Followern. Allerdings mobilisierte Trump – im Gegensatz zu 2016 – auch die Gegner überdurchschnittlich, wie ersichtlich anhand der Rekordstimmbeteiligung.

    Dazu kommt, dass Trump‘s Wählerpotential, wie o. ausgeführt, tatsächlich gewachsen ist und monolithischer wurde: Die County-Analysen zeigen, dass die Trumpmehrheiten dort, wo Trump schon 2016 überdurchschnittlich stark war, noch zugenommen haben. Auf der bundesstaatlichen Ebene traf dies insbesondere für Florida zu.

    Insgesamt zeigt sich, dass Umfragen dem komplexen Wahlsystem in den USA kaum gewachsen sind. Weltweit wird die Treffsicherheit von Umfragen abnehmen, da die Komplexität und Irrationalität der Entscheidungsfaktoren bei Wählern Umfragen insgesamt überfordert.

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